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Wir bauten eine Kathedrale
Chartres und die Kraft der inneren Aufrichtung

VON ANTJE DOßMANN

Warum Chartres?
Im Nachhinein hatte es etwas mit Zweifeln zu tun, dass ich die Reise nach Chartres antrat. Mit den Erscheinungen der äußeren Welt und der Frage, was ich dem Geklingel und Gerassel an inneren Überzeugungen eigentlich noch entgegenzusetzen hatte. Es hatte etwas mit jahrelangem Engagement in der Schule meiner Kinder zu tun, mit zunehmender Aufreibung, mangelnder seelischer und geistiger Vertiefung im anthroposophischen Kontext, mit meinen nachlassenden Energien und gelegentlicher Resignation. Und sehr viel mit der Sehnsucht nach einem alten Traum von Welt, darin Menschen sich die Hand reichten. Mit den kleinen, immer weiter nach innen gerückten Räumen, die ich dieser Sehnsucht gab und meiner unbestimmten Trauer darüber.
In dieser Krise war Chartres aufgetaucht am Horizont, die Kathedrale von Chartres, und auf mich zugekommen wie ein gespiegeltes Schiff. Eine Kollegin, mit der ich im Vorstand der Rudolf-Steiner-Schule Bielefeld zusammenarbeitete, fuhr regelmäßig dorthin und hatte schon einige Male von dieser Gruppenreise und der geschulten Wahrnehmung des Kraftortes Chartres berichtet, ohne dass mir ihre leuchtenden Augen dabei aufgefallen wären. Diesmal aber sah ich es, sah ich sie und ihre fast mit den Händen zu greifende Vorfreude auf die Fahrt. Und wie man in seltenen hellsichtigen Momenten plötzlich weiß, was zu tun ist, beschloss ich, in diesem Jahr mitzufahren.
Auf dem Weg nach Chartres
Die Reise sollte unmittelbar nach Ostern stattfinden und unter die Worte gestellt sein: Die Kraft der Auferstehung. Wie es sein würde, unter der gezielten Führung des Chartres-Kenners und erfahrenen Seminarleiters Christophe Marie Rogez der Kunst des Sakralen „mit dem Auge zu lauschen“, sie „mit der Seele zu schauen“, davon hatte ich im Vorfeld keine genaue Vorstellung. Nur eben dieses Ahnungswissen von den außerordentlichen Kräften seiner Kurse.
Ein zweiter Eckpfeiler, eine zweite Inspirationsquelle der Chartres-Reise sollte das gemeinsame Singen der Gruppe mit Janneke van den Dool sein. Bei einem vorbereitenden Treffen mit der bemerkenswerten, von Musik ganz durchdrungenen Holländerin lernte ich einige meiner späteren Mitfahrer kennen. Ein intensives Wochenende lang übten wir uns in gemeinsamem Gesang. In Chartres wollten wir die zwischen dunkler Passion und heller Auferstehungsfreude changierenden Lieder, die Janneke van den Dool ausgewählt hatte, dann zusammen mit den aus anderen Städten zur Gruppe stoßenden Menschen vertiefen. Um sie schließlich an verschiedenen Stellen der Kathedrale und zu unterschiedlichen Tageszeiten zu singen – unseren Gesang der Kathedrale zu schenken, wie Janneke es einmal formulierte. Es waren Sätze wie diese, die mich besonders ansprachen, meine Neugier auf die Reise verstärkten und nun auch bei mir echte Vorfreude aufkommen ließen. Sätze wie diese und das Gefühl, bereits bei diesem ersten gemeinsamen Singen den Menschen, mit denen ich reisen würde, näher gekommen zu sein.
Wenige Wochen später machten wir uns zusammen auf den Weg nach Chartres. Mich trieben meine Suche nach Sinn voran und meine Hoffnung auf die Antwort gebende Kraft der Kathedrale. Aber es gab auch einen Rest Skepsis in mir, der die Vorwärtsbewegung bremste, und in Chartres habe ich dann manchmal gedacht: In gewisser Weise näherte ich mich der Kathedrale – im Pilgerschritt.

In Chartres
Ab wann wissen wir, dass ein Vorhaben gelingen wird? Dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind? Etwas mit uns geschehen wird, das wesentlich ist? Und ein Pakt in Aussicht steht, der uns mit dem Leben wieder etwas tiefer verwurzeln wird als zuvor?
Es kommt vor, dass dieser Pakt zwischen einem Kraftsuchenden und einem Kraftvermittelnden auf Anhieb geschlossen wird. So ging es mir und vielen meiner Mitfahrer mit Christophe Marie Rogez. Zu ihm ließ sich unmittelbar Vertrauen fassen. Weil er uns von Anfang an auf Augenhöhe begegnete und mit einer großer Offenheit. Und weil wir instinktiv spürten, dass uns mit dem gebürtigen Elsässer jemand an die Seite gestellt war, der die Kathedrale von Chartres seit vielen, vielen Jahren mit all seinem kunsthistorischen Sachverstand durchdringt, aber eben auch mit all seiner tiefen Liebe für ihren Sinngehalt und die belebende, trostspendende Wirkung ihrer symbolischen Kompositionen. Seine eigene Verbindung mit dem Kraftort Chartres war das Fundament seiner ebenso behutsamen wie klar durchdachten Methode, uns mit der Kathedrale bekannt zu machen. Sie eröffnete auch uns die Möglichkeit, das Gotteshaus als etwas Warmes, Lebendiges zu erfahren, nicht als musealen Ort versammelter Kunst, gehorteter Reliquien.
Denn darum ging es nicht in dem Seminar. Sondern um die noch immer gültigen Botschaften, die von der Kathedrale ausgehen und unsere Sensibilisierung dafür. Die Mittel, die Christophe Marie Rogez uns für diese Einübung an die Hand gab, sprachen Körper, Seele und Geist gleichermaßen an. Wenn wir mit ihm die ebenerdigen Ausmaße der Kathedrale abschritten oder bei morgendlichen Bothmer-Übungen unter seiner Anleitung ihrer Ausdehnung gen Himmel nachspürten, erlebten wir ihre großen, großzügigen, aber nicht großsprecherischen Dimensionen am eigenen Leib. Vertieften wir uns minutenlang in ein bestimmtes Detail in einem der unfassbar leuchtenden Glasfenster und lernten im Anschluss etwas über die gesamte Bildanordnung und ihre beredeten Aussagen über das Wesen des Christentums, wurde unser Geist angeregt. Auch die Passagen aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther, die er leitmotivisch vortrug, setzten den Strom unserer Gedanken in Bewegung und waren in ihrer Weisheit zudem so poetisch, ihren Visionen so wegweisend, dass sie der Seele gut taten: „Wir sind Gottes Mitarbeiter“, schrieb Paulus, „das Ackerland Gottes und Gottes Bauwerk, das seid ihr“. Und stärker noch als die Paulus-Briefe gingen einige thematisch und atmosphärisch äußerst stimmige Gedichte auf unsere seelischen Bedürfnisse ein.
Und so, Schritt für Schritt, Gedanke für Gedanke, Gefühl für Gefühl nahmen wir die Kathedrale von Chartres in uns auf: Ihre frohe weltoffene Ausrichtung nach Südwesten-Nordosten. Ihre beiden so verschiedenen und doch zusammen gehörenden Türme und die unvergleichlichen gotischen Steinfiguren an ihren Portalen: Die Könige und Königinnen, freien Künste, Propheten, Grundgütigen, Namenlosen, in deren Anblick wir mitunter so intensiv und so konzentriert versanken, dass wir nicht länger vor ihnen standen, sondern neben ihnen und auf uns selbst schauten.
„Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?“
schrieb Nelly Sachs 1945 über die tiefen Risse, die sich durch die Welt ziehen. Und nie zuvor habe ich ihre elementare Trauer besser verstanden.
Auf nahmen wir die weitläufige Krypta, die von der Virgo Paritura, der Jungfrau, die gebären wird, rätselhaft und faszinierend zugleich regiert wird. Und einmal sandten wir ihr unseren Gesang durch das unterirdene Gewölbe wie andächtigen Jubel. Auf nahmen wir auch das fast zu schweben scheinende Kirchenschiff mit seinen erdwärts gesungenen Masten, wie Paul Celan so bildmächtig schrieb. Und schließlich das vollkommene Labyrinth mit seiner zentrierenden Kraft und seinem Ausweg, der zum Altar führt.
Wir stiegen hinunter in das tiefste Dunkel, hinauf in die lichteste Höhe der Kathedrale und unseres Selbst. Und wuchsen als Gruppe dabei immer mehr zusammen. Dreißig Menschen unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Lebenslagen, die eine wichtige Weile lang Gemeinschaft lebten, nicht zufällig in der Woche nach Ostern, nicht zufällig unter dem Thema der Auferstehung versammelt. Wir standen uns bei, so oft wir in innere Not gerieten, konnten aber auch gut zusammen lachen, lächeln. Wir redeten, sangen, bewegten uns miteinander in dieselbe Richtung, teilten unsere Eindrücke, unser Essen, unser Glück. Und als wir uns am letzten Tag, während draußen ein noch einmal winterlicher Morgen dämmerte und die Kathedrale ihre Türen für den täglichen Besucherandrang noch geschlossen hielt, schließlich in das Labyrinth begaben, da war für mich neben der eigenen inneren Bewegtheit noch etwas anderes ganz deutlich zu spüren: In diesem Moment bauten wir selbst eine Kathedrale.
Zurück aus Chartres
Was bleibt? Der nicht bis obenhin volle, aber vorerst wieder ausreichend gefüllte Kraftspeicher in meinem Inneren. Das sichere Gefühl, gut weitermachen zu können im Engagement für andere, und vor allem wieder zu wissen, warum. So viele neue Ideen, Pläne. Die anhaltende Regsamkeit meiner Sinne. Die Schönheit der Erinnerung. Neue Freunde. Dankbarkeit. Trost. Die Gewissheit, einen Auftrag zu haben. Das wiedererwachte Vertrauen in das Wunder Mensch. Und mein Frohsein darüber.

Zur Autorin: Antje Doßmann ist promovierte Germanistin, Herausgeberin und Verfasserin verschiedener literarischer Texte. Als freie Mitarbeiterin schreibt sie regelmäßig Kulturbeiträge für eine Bielefelder Tageszeitung. Seit zehn Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich beim Deutschen Kinderschutzbund und seit 2007 als Elternvertreterin im Vorstand der Rudolf-Steiner-Schule Bielefeld, die ihre beiden Kinder (18 und 16 Jahre alt) besuchen.

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